Ein weniger bekanntes Kapitel der jüngeren Geschichte Rodenbergs dürften die Vorkommnisse am 04. Sept. 1921 sein. Vor 100 Jahren war in unserem Städtchen der Teufel los. Statt Kriegerfest-Umzug und Demonstration gegen die Teuerung herrschten Unruhen und Gewalt. Mehr als 5000 auswärtige Demonstranten marschierten auf Rodenberg zu.
Die Demonstration lief im Verlauf des Tages völlig aus dem Ruder.
Hardy Krampertz streifte 1990 in seiner ,,Chronik III“ auf Seite 157 das Geschehen, schrieb dazu: ,„Eine Bewertung der Ereignisse kann im Rahmen dieser Ortsgeschichte nicht erfolgen. Es handelt sich hier nicht nur um eine ortsbezogene Auseinandersetzung`, sondern im ganzen hannoverschen Umfeld kam es zu ähnlichen Aktionen.“
Was Rodenberg und seine Umgebung damals erschütterte, soll auch hier nicht historisch aufgearbeitet und bewertet werden. Aber nachdem die Beteiligten verstorben sind, kann die Geschichte jetzt wohl in knapper Form erzählt werden. Einige Mühe macht dabei, dass die Quellen (Pressemeldungen, Stellungnahmen, Prozessberichte) je nach Standpunkt sehr unterschiedlich gefärbt sind. Ich benutze für diesen Beitrag Aufzeichnungen meiner Mutter Gerda Zerries und des Lokalchronisten Walter Münstermann in Auszügen.
Es kamen zwei Faktoren zusammen, die beide mit dem verlorenen Ersten Weltkrieg zu tun hatten: Die Preise stiegen beängstigend an, ohne dass man schon wusste, was eine galoppierende Inflation war (sie würde zwei Jahre später in einen Milliardentaumel münden); der ärmere Teil der Bevölkerung geriet zunehmend in Not und machte seinem Ärger Luft in unüberlegten Anschuldigungen gegen Erzeuger und Handel als ,„Preistreiber“ und „Wucherer“. Das war die wirtschaftliche Seite.
Der andere Faktor bestand, knapp drei Jahre nach Kriegsende, in der politischer Empfindlichkeit: die Weimarer Republik war noch ganz neu, und es herrschte eine tiefe Spaltung zwischen Bürgertum und organisierter (meist sozialdemokratischer) Arbeiterschaft.
In diesem brisanten Umfeld sollte in Rodenberg das traditionelle Kriegervereinsfest gefeiert werden. Ausmarsch, Tanz, Preisschießen, Kinderfest. Dieses Fest war ausdrücklich genehmigt worden, während an diesem Sonntag andere Demonstrationen, welche die öffentliche Ordnung gefährden konnten, verboten waren. Der damalige Bürgermeister Dr. Ritter betont in einem späteren Schreiben: „Im Kriegerverein wirkt die Arbeiterschaft durch ihre Zahl bestimmend, gerade diese sind für die Feier des Jahresfestes stets eingetreten.“ Aber die wirtschaftliche Not scheint doch so groß gewesen zu sein, dass der Umzug am 4. September aus der Arbeiterschaft heraus zu einer gleichzeitigen „Lebensmittel-Demonstration“ benutzt werden sollte. Es kam schlimmer.
In den Zechenorten Bantorf und Barsinghausen gab es Kräfte, die in dem Rodenberger Kriegervereinsfest eine Ersatzfeier für den „Sedantag“ sahen. Sedan – das war der Sieg von 1870 über die Franzosen, den man im Kaiserreich in jedem September mit Glanz und Gloria gefeiert hatte. Eine solche „monarchistisch-militaristische Demonstration“ wolle man sich nicht wieder gefallen lassen, hieß es. Deshalb gingen unter den Bergleuten aggressive Flugblätter um: „Auf zum Sedanfest nach Rodenberg!“. Und so wälzte sich denn an dem bewussten Sonntag ein Zug von über 5000 Demonstranten mit roten Fahnen nach Rodenberg. Was die Einheimischen als Festumzug, allenfalls als Protestkundgebung gegen Preistreiberei (und die Ermordung des Politikers Erzberger), gesehen hatten, geriet schnell unter die Regie der auswärtiger Scharfmacher.
Wie aus den verschiedenen Berichten zu entnehmen ist, machten viele Rodenberger an diesem Punkt nicht mehr mit und gingen nach Haus. Andere, besonders Jüngere, ließen sich jedoch mitreißen und beteiligten sich aktiv an den folgenden Übergriffen, ohne dass jemand eingeschritten wäre. Was da im einzelnen geschah, lässt sich nachlesen oder ist alten Einwohnern aus den Erzählungen ihrer Eltern im Gedächtnis geblieben. Es gab eine Liste der Kaufleute, Schlachter, Bäcker und Landwirte, die man für Preistreiber hielt. Sie alle wurden aus den Häusern herausgeholt – notfalls gewaltsam – und mit Schmähschildern um den Hals durch die Lange Straße geführt – die Kapelle des Kriegerfestes unter Zwang (aber gegen Entgelt!) voran.
Eine Gruppe von 2-300 Demonstranten marschierte zur Domäne, um dem Inspektor Vorhaltungen über die Lebensmittelpreise zu machen. Auch er musste schließlich mit einem Schild „Wucherer“ um den Hals mitmarschieren. Manchmal waren die Schilder noch gemeiner: Einer Bäuerin wurde die Aufschrift „Ich bin eine Kindesmörderin“ umgehängt, sie hatte aus irgendwelchen Gründen keine Milch verkauft. Überhaupt schlich sich in die Übergriffe manch persönlicher Racheakt ein. Andere Szenen wirken eher komisch: Der Ehrengauvorsitzende der (konservativen) Deutschen Turnerschaft wurde dazu genötigt, eine Rede auf die Konkurrenz, die (eher linksorientierte) Arbeiterturnerschaft, zu halten. Bei dem allen kam es zu heftigen Ausschreitungen gegen die Personen, auch gegen solche, die nicht mitmarschieren wollten.
Es wurde blutig geschlagen, getreten und gedemütigt. Gleichzeitig setzten Plünderungen ein. Der Gesamtschaden betrug in der Stadt 18.000 Reichsmark, auf der Domäne noch einmal 10.000 Reichsmark.
Fortsetzung folgt …