Ein Artikel in der Deutschen Rundschau aus dem Jahr 1888 mit dem Titel „Aus Kaiser Friedrichs Tagebuch 1870/71“ brachte Julius Rodenberg und seinem Redakteur Friedrich Heinrich Geffcken eine Anklage wegen Landesverrats ein.

Was war geschehen?

Das Jahr 1888 ging als das „Dreikaiserjahr“ in die dt. Geschichte ein. Der greise Kaiser Wilhelm I. starb im März. Sein Sohn folgte ihm als Kaiser Friedrich III. auf den Thron – schon vom Kehlkopfkrebs gezeichnet erlag er der Krankheit am 14. Juni. Gerade mal 99 Tage war er Kaiser gewesen.

Noch am gleichen Tag wurde Friedrichs Sohn Kaiser: Wilhelm der II.

Im Mittelpunkt der Affäre steht eine Anklage wegen Landesverrats und zwei prominente Kontrahenten: Reichskanzler Fürst Bismarck auf der einen und der Prof. Jurist Friedrich Heinrich Geffcken auf der anderen Seite, eine Art bunter Vogel, Hamburger Senatorensohn und Studienfreund von Kaiser Friedrich III.
J. Rodenberg und die Dt. Rundschau kann man dagegen eher als Kollateralschaden in dieser juristischen Auseinandersetzung bezeichnen.

Quelle Wikipedia

Im August d. J. bekam Julius von Prof. Geffcken eine bereits redigierte Auswahl aus dem Tagebuch von Kaiser Friedrich, das dieser als Feldherr im deutsch/französischen Krieg 1870/71 geschrieben hatte. Woher hatte Geffken das Tagebuch? Er hatte es 1873 vom befreundeten Kronprinzen zum lesen erhalten, wobei Geffken ohne dessen Wissen eine Kopie anfertigte. Julius brachte noch einmal mildernde Streichungen an und gab das Manuskript ohne Quellenangabe zum Druck frei.

Das Oktober-Heft erschien am 20.September. Sofort erregte es, vor allem in der sogen. „fortschrittlichen Presse“ großes Aufsehen wegen eben diese Beitrages – wobei zu der Zeit der Begriff „fortschrittlich“ nicht eben positiv besetzt war. Bismarck las diese Nummer der Deutschen Rundschau, ohne zu wissen, dass der eher konservative Prof. Geffcken – ein Gegner Bismarcks – den Tagebuchauszug veröffentlicht hatte. Bismarck bezeichnetet deshalb die Veröffentlichung als gegen ihn gerichteten Schlag, der „auf Initative und unter Beihilfe fortschrittlicher Parteigänger erfolgt“ sei.

Was hat den „eisernen“ Kanzler so erzürnt?

Das lesen des Beitrages heute ist mühsam, weil es über weite Strecken nur Satzfragmente sind. Zentrale Zitate sind in franz. Sprache und ohne Übersetzung wiedergegeben.

Die missglückte Strafaktion gegen Geffcken und die Deutsche Rundschau, G. E. Gründler, 2009, Quelle: Museum Digital

Wie Bismarck selbst ausführt, war der damalige Kronprinz nicht in die aktuelle Politik eingebunden. Der Grund ist bemerkenswert: man befürchtete  Indiskretionen der Ehefrau des Kronprinzen(!). Sie war eine Tochter von Queen Victoria und das engl. Königshaus war mit dem dt. Kriegsgegner Frankreich verbandelt. Deshalb konnte sich der Inhalt der Tagebücher nur auf belanglose Begebenheiten rund um den Kriegsverlauf sowie persönliche Gespräche mit Zeitgenossen drehen. So mit Napoléon dem III, der auf Schloss Wilhelmshöhe offenbar sehr komfortabel gefangen gehalten wurde und der sich für die nette Aufnahme bedankte.

Tragik-komisch ist die Begegnung mit dem „Bayernkönig“ Ludwig, der seit seiner letzten Begegnung mit dem Kronprinzen alle Zähne verloren hatte und sich kaum auf eine Gespräch konzentrieren konnte. So berichtet der damalige Kronprinz, wie er von eben diesem den Max-Joseph-Orden erhält, der nur nur für gewonnene Schlachten erteilt wird.
Orginalton: „In Bayern besitzt in niemand“ …(!)

In Bezug auf Bismarck gibt es Bemerkungen in der Art: „Bismarck, den ich im Bette finde und dessen Zimmer einer wahren Rumpelkammer gleicht.“

Das allein kann Bismarck allerdings nicht so erzürnt haben! Bei der Beschäftigung mit dem Tagebuch fällt auf, dass sich der damalige Kronprinz neben dem Kriegsverlauf auch intensiv mit der Kaiserfrage und deren Ausgestaltung beschäftigt hat.

Der Kronprinz beschreibt u.a. einen handfesten Streit mit Bismarck um diese Thema. Er lässt sich ihm gegenüber intensiv über die Kaiserfrage aus, worauf Bismarck meint, der Kronprinz dürfe dergleichen Ansichten nicht äußern. Der Kronprinz verbittet es sich, den Mund in dieser wichtigen Frage von Bismarck verbieten zu lassen. Bismarck entgegnet, wenn der Kronprinz befehle, werde er nach dessen Ansichten handeln. Der Kronprinz: „Ich protestiere dagegen, weil ich gar keine Befehle zu erteilen habe“ worauf Bismarck verklausuliert sein Entlassung anbietet. „Er würde sehr gern Platz machen…“

Die missglückte Strafaktion gegen Geffcken und die Deutsche Rundschau, G. E. Gründler, 2009, Quelle: Museum Digital

Bismarck sah sich selbst als Architekt des Kaiserreiches. Dies wurde auch öffentlich so wahrgenommen. Das in der Rundschau veröffentlichte Tagebuch lässt dem gegenüber tiefe Einblicke in die Zeit der Reichsgründung und der Kaiserfrage zu. Der Kronprinz als unmittelbarer Chronist beschreibt eine breite und vielfältige Diskussion um die komplexe Frage der Reichsgründung. Bismarck sah durch den Artikel seine Rolle als Architekt in Frage gestellt. Darüber hinaus konnte er keine Kritik von irgendeiner Seite vertragen. Durch lange Alleinherrschaft verwöhnt überschätzte er sein Durchsetzungsvermögen.

Dies war offenbar Anlass, der ihm so verhassten freisinnigen Bewegung einen großen, wenn nicht gar tödlichen Schlag zu versetzen. Julius mit seiner Rundschau hatte sich damit den ganzen Zorn von Bismarck zugezogen. Bismarck veranlasste staatsanwaltliche Ermittlungen und einen Haftbefehl gegen Geffcken. Die Anklage gegen Geffcken und Julius lautete auf Landesverrat.

Kaiser Friedrich III, der 99 Tage Kaiser. Quelle Wikipedia

Zu dem Zeitpunkt hielt sich Geffcken im (damals britischen) Helgoland und Julius in schönen Santa Margherita in Ligurien auf. Es wurde vermutet, dass beide gewarnt wurden und sich deshalb ins Ausland abgesetzt hatten. Allerdings kehrten beide nach bekanntwerden des Wirbels sofort und freiwillig nach Deutschland zurück. Nach seiner Rückkehr nach Hamburg erfolgte die Inhaftierung Geffkens und die Durchsuchungen der Redaktions- und Privaträume von J. Rodenberg in Berlin.

Der Prozess endete am 04. Jan. 1889 mit einem Freispruch für beide. Die Urteilsbegründung erscheint aus heutiger Sicht etwas merkwürdig: Die Absicht der beiden Männer wurde als „rein“ anerkannt. Den Beschuldigten fehlte das Bewusstsein, dass der Artikel Nachrichten enthielt, die einer Geheimhaltung gegenüber anderen Regierungen bedarf.

Zurückblickend mussten alle Beteiligten bezahlen: Geffcken mit (genau) 99 Tagen Untersuchungshaft und gesundheitlicher Zerrüttung, Julius Rodenberg seine Rundschau mit zeitweiligen Verbot und für Bismarck wurde die Affäre zum Einstieg in den Abstieg. Er verlor das Vertrauen von Kaiser Wilhelm II. Nebenbei musste anschließend auch noch der Justizminister zurücktreten.

Julius als Herausgeber handelte allenfalls blauäugig, aber keinesfalls mit politischer Absicht. Eher aus Respekt vor dem verstorbenen Kaiser Friedrich. Er glaubte auch, dass es ihm nicht zustehen würde, die Veröffentlichung des Tagebuches zu verhindern.

„Der Lotse geht von Bord“, Quelle Wikipedia

Bismarck dagegen, der sich selbst als „guten Hasser“ bezeichnete, agierte die zwei Jahre bis zu seinem Rücktritt als Kanzler 1890 weiter gegen die Rundschau und vor allem gegen Prof. Geffcken.

In der Rundschau erschienen dagegen nur noch wohlmeinende Artikel über Bismarck. Selbst anlässlich seine Rücktritts, wo ein „Nachtreten“ vielleicht natürlich gewesen wäre, schreibt Rodenberg in der Rundschau traurig und ergriffen von dem „Ende einer Ära“. Dies setzte sich so fort zum achtzigsten Geburtstag von Bismarck und auch anlässlich seines Todes im Jahr 1898, was sehr deutlich zeigt, welch sanftmütiger und nicht nachtragender Charakter Julius Rodenberg war.

Der Autor Gerhard E. Gründler hat in seinem Buch „Bismark auf Treibjagd – Die missglückte Strafaktion gegen Geffken und die Deutsche Rundschau“ die Affäre zum Thema gemacht. Das Buch ist im Heimatmuseum ausgestellt und nur noch antiquarisch erhältlich.