Am 4. September 1921 war in unserem Städtchen der Teufel los. Statt Kriegerfest-Umzug und Demonstration gegen die Teuerung herrschten Unruhen und Gewalt. 5000 auswärtige Marschierer hatten die Veranstaltung zu einem „Anti-Sedan-Tag“ gemacht. Örtliche Aufrührer führten Kaufleute, Handwerker und Landwirte mit „Wucherer-Schildern“ durch die Lange Straße.Zum symbolische Höhepunkt wurde diese Szene: Ein jugendlicher Arbeiter aus Rodenberg holte die Fahne, die Gewehre und anderes Eigentum des Kriegervereins aus dem Ratskeller und zerstörte sie. Die Fahne wurde draußen verbrannt. Auf der Straße hielt ein auswärtiger Anführer eine ,,aufreizende Rede“, wie es in einem Bericht heißt. Der Zug löste sich schließlich auf dem Schützenplatz auf. Wie, das ist nicht genau nachvollziehbar.

Rodenberger Zeitung vom 27.05.1922. Für den ganzen Text klick auf Bild

Der Regierungspräsident verlegte hinterher eine Hundertschaft Schutzpolizei nach Groß Nenndorf und ließ „mit Motorrädern und Automobilen einen scharfen Patrouillendienst ausüben“.

Meine Großmutter, Elise Reese, geb. Böhling erinnerte sich: „Im Laufe des September 1921 kam dann nachts oft die Grüne Minna, um Rädelsführer, die tagsüber zur Arbeit waren, zu verhaften“. In Barsinghausen wurden weitere zwanzig Personen verhaftet.
Im Mai 1922 ergingen in Hannover nach langer Hauptverhandlung mit 57 Zeugen aus Rodenberg, Bantorf, Nenndorf und Barsinghausen die Urteile gegen zwölf Rodenberger und aus der Umgebung stammenden Angeklagten wegen Landfriedensbruchs und anderer Delikte: von sechs Monaten bis drei Monaten Gefängnis plus Geldbußen; zwei Freisprüche. Alle Angeklagten waren „bisher unbescholten“.

Käthe Kollwitz, Radierung „Aufruhr“ 1899, Käthe-Kollwitz-Museum Berlin

Meine Großmutter war eine der geladenen Zeugen. Sie wunderte sich nur, dass die gerichtl. Vorladung zugleich Zugfahrkarte nach Hannover war…
Der Sekretär der Sozialdemokratischen Partei in Rinteln hatte dem Prozess geschrieben: „Das, was geplant war, sollte nur dazu dienen, den Feinden der demokratischen Republik zu zeigen, dass die Mehrzahl der Bevölkerung auf dem Boden der demokratischen Republik steht. Wie immer bei solchen Anlässen, so hatten sich in die Reihen der Demonstranten Leute geschlichen, die solche Anlässe immer benutzen, um sich persönlichen Vorteil zu verschaffen. Die Verhafteten kommen nicht als Haupträdelsführer in Betracht. Die eigentlichen Urheber befinden sich noch auf freiem Fuß“.

Rodenberger Zeitung vom 17.05.1922. Klick für den ganzen Text

Die Ergebnisse des ersten Strafprozesses:

Wilhelm Gewecke, Bergarbeiter, geb. 1900 in Rodenberg, 6 Monate u. 2500 RM
Heinrich Meyer, Badewärter, geb. 1865 in Schmarie, 5 Monate u. 2000 RM
Wilhelm Meyer, Arbeiter, geb. 1878 in Schmarie, 3 Monate u. 1000 RM
Friedr. Schwarz, Bergarbeiter, geb. 1872 in Rodenberg, 4 Monate u. 1500 RM
Friedrich Rose, Schuhmacher, geb. 1889 in Rodenberg, 8 Monate u. 3000 RM
Heinr. Döpke, Eisenbahnarb. geb. 1895 in Rodenberg, 5 Monate u. 2000 RM
Konrad Warnecke, Eisenbahnarb. geb. 1900 in Groß Nenndorf, 3 Monate u. 1000 RM
Heinrich Kasten, Bergarbeiter, geb. 1896 in Barsinghausen, Freispruch
Johannes Naake, Zigarrenhändler, geb. 1866 in Braunschweig, 6 Monate u. 2500 RM
Heinrich Baake, Bergarbeiter, geb. 1879 in Groß Hegesdorf, Freispruch
Fritz Winter, Bergmann, geb. 1902 in Barsinghausen, 5 Monate u. 2000 RM
Christian Hülsemann, Dienstknecht, geb. 1909 in Riehe, 1000 RM

In einem weiteren Prozess waren wegen schweren Land- und Hausfriedensbruch angeklagt:

Invalide Theodor Döpke, 1 Jahr 6 Monate oh. Bewährung
Arbeiter Heinrich Stapel, (?)
Arbeiter August Rohrsen, 6 Monate u. 2000 RM
Schmiedelehrling Heinrich Dismer, 3 Monate u. 1000 RM
Schlosser Friedrich Schüddekopf, 9 Monate oh. Bewährung
Telegrafenarbeiter August Winter, 6 Monate u. 2000 RM
Lehrling Konrad Lübke, 3 Monate u. 1000 RM
Arbeiter Karl Mieke, Freispruch
Bergmann Otto Richers, 4 Monate u. 1500 RM

Die Behörden versuchten vorher und hinterher, die Preissteigerungen durch Verordnungen und Preisverzeichnisse zu bremsen; untaugliche Mittel in Zeiten von Inflation, ebenso unwirksam wie die Beschuldigung von Handel und Gewerbe. Der Landrat rief die Landwirte am 8. September 1921 dazu auf, nicht nur an Minderbemittelte, sondern allgemein Kartoffeln zu einem angemessenen Preis zu liefen und ein zusätzliches Quantum Brotkorn. Der Landverband bat genauso, man solle keine Kartoffeln aus dem Kreis heraus verkaufen, bevor der Kreisbedarf gedeckt sei. Am Tage nach dem Aufruhr verkündete der Landverband den Beschluss, je 3 Zentner Kartoffeln zum Preis von 25 Reichsmark insbesondere für Kriegerwitwen, – Waisen, Pensionäre und Rentner zur Verfügung zu stellen. Für Nicht-hilfsbedürftige lag der Preis bei 35 Reichsmark. Von „Inflation“ war noch nicht die Rede, aber man befand sich mittendrin. Die Bemühungen mussten deshalb vergeblich bleiben – die Not der Bevölkerung hielt an.